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Ein kurzer Ausflug ins Gehirn

Ulrich Schnabel

aus "Die Vermessung des Glaubens"


Wer in Zeitung oder Fernsehen populärwissenschaftliche Berichte verfolgt, gewinnt manchmal den Eindruck, es erginge uns kaum anders als den bewusstlosen, bikameralen Automaten, die Julian Jaynes einst in seinem Buch entwarf. Allerdings scheinen heute nicht die Götter das Kommando übernommen zu haben, sondern eine noch mächtigere Instanz: das Gehirn. In der einen Zeitschrift liest man, „das Gehirn“ bestimme, was wir kaufen oder wen wir lieben; anderswo wird allen Ernstes die Frage diskutiert, ob „das Gehirn einen Mord begehen kann“ – ganz so, als existiere das Gehirn losgelöst von unserer restlichen Person und entscheide selbstherrlich an unseren eigentlichen Überzeugungen vorbei.

Das erinnert an die vor einigen Jahren gängige Ansicht, der Mensch sei nichts anderes als »die Marionette seiner Gene«.Damals hieß es, all unsere Prägungen, Vorlieben und Handlungsweisen seien bereits im Erbgut festgelegt; nun scheint unser Wohl und Wehe einzig von den Nervenzellen (Neuronen) im Gehirn und ihren Verbindungen (Synapsen) bestimmt zu sein. Die gern gezeigten bunten Bilder aus dem Kernspintomografen suggerieren, man müsse nur scharf genug ins menschliche Hirn hineinblicken, um zu wissen, was seine jeweilige Besitzerin denkt, wen sie liebt und wonach ihr heimlich gelüstet. Und immer mehr Disziplinen machen mit der Vorsilbe „Neuro“ Staat. Neben „Neurotheologie“ gibt es inzwischen „Neurodidaktik“ (deren Pionier Manfred Spitzer war),  „Neuroökonomie“, das „Neuromarketing“ ( „gehirngerechtes Marketing“) und neuerdings selbst so etwas wie „Neuropolitik“.

Dabei zeigen die Ergebnisse der Neurowissenschaften, dass die Nervenzellen einen Menschen genauso wenig determinieren, wie es seine Gene tun. Die Gensequenz eines Menschen mag unveränderlich sein, doch die Aktivität der Gene wird fortlaufend durch von außen kommende Signale gesteuert. Auch das Denkorgan ist von diesem Wechselspiel abhängig: Umwelt und Erfahrung entscheiden darüber, welche Nervenzellen wachsen oder verkümmern, welche Nervenverbindungen angeregt werden und wie die Architektur unseres Gehirns beschaffen ist, die am Ende so einzigartig ist wie unser Fingerabdruck.

Das lässt sich in Tierversuchen eindrucksvoll demonstrieren: Ein Leben in öder, reizloser Umgebung führt zu Deprivation. Fehlen Spielgeräte (oder Spielkameraden!), entwickeln Ratten deutlich weniger synaptische Verbindungen im Gehirn als Artgenossen in freier Wildbahn. Dieser Effekt schlägt in der Jugend besonders stark durch; mittlerweile ist er jedoch auch bei erwachsenen Tieren nachgewiesen.

Auch bei unserer eigenen Spezies hängt die Entwicklung des Gehirns entscheidend von den Reizen ab, die wir erhalten. Alles was wir häufig tun und denken, so scheint es, schlägt sich über kurz oder lang in unserer Hirnstruktur nieder. Besonders gut nachgewiesen sind zum Beispiel die neurobiologischen Veränderungen durch intensives Musizieren. Das Hörzentrum wird sensibler, bei Pianisten und Streichern vergrößert sich zudem jener Teil der Großhirnrinde, der den Tastsinn der Finger repräsentiert. Bei Taxifahrern hingegen lässt das jahrelange Einprägen von Fahrtrouten, Einbahnstraßen und Sehenswürdigkeiten den hinteren Teil des Hippocampus schwellen, der für das räumliche Gedächtnis zuständig ist. Er ist umso größer, je mehr Berufserfahrung ein Taxifahrer hat. Dafür verliert der vordere Teil des Hippocampus an Volumen, sodass sich die Gesamtgröße des Gehirns nicht verändert. Der Kognitionspsychologe Thaddeus Polk von der University of Michigan wiederum hat gezeigt, dass sich sogar das Gehirn von Postangestellten verändert, die täglich Briefe nach Kanada sortieren: Weil kanadische Postleitzahlen aus einer Kombination von Buchstaben und Zahlen bestehen (M5B 2C1 für Toronto), verwischt sich in den Gehirnen der Sortierer allmählich die Differenzierung zwischen Zahlen und Buchstaben, die normalerweise in getrennten Hirnbereichen verarbeitet werden.

Typischerweise sind solche Veränderungen umso ausgeprägter, je früher die Einflüsse zu wirken beginnen. Wer etwa vor dem Alter von sieben Jahren beginnt, ein Musikinstrument zu üben, vergrößert damit das Corpus callosum, das die linke und rechte Hirnhälfte verbindet – und steigert so die Fähigkeit zum ganzheitlichen Denken. Aber auch im Erwachsenenalter ist das Gehirn noch formbar (plastisch). Durch intensives Üben lässt sich oft in etwa die Hälfte des Effekts erzielen, der beim Kind möglich ist. Was Hänschen nicht lernt, kann Hans also noch zur Hälfte lernen.

Die Besonderheit des Homo sapiens besteht natürlich darin, dass ihn nicht nur praktische Tätigkeiten prägen, sondern auch rein geistige Inhalte. Die Idee des Monotheismus etwa oder das Ideal der Aufklärung waren so wirkungsmächtig, dass sie unser ganzes Denken und Fühlen nachhaltig verändert haben. Auch wenn man nicht so weit zu gehen braucht wie Julian Jaynes, der einen grundlegenden Umbau der Gehirnarchitektur postulierte,
kann man doch davon ausgehen, dass unsere Gehirne gelernt haben, anders zu denken als jene der Menschen vor 4000 Jahren. Wir haben, in der Rückkopplung von Geist und Kultur, bestimmte synaptische Verbindungen gestärkt und andere Bahnen geschwächt und geben diese spezifische Art zu denken wiederum an unsere Kinder weiter.

„Die kulturelle Prägung ist enorm“, betont der Bremer Hirnforscher Gerhardt Roth. „Egal, welche Gen-Ausstattung ein menschlicher Säugling mitbringt – wenn er in Afrika, Europa oder Japan aufwächst, wird er eben zum Afrikaner, Europäer oder Japaner. Und wer erst einmal in einer Kultur aufgewachsen und, sagen wir, 20 Jahre alt ist, wird nie mehr ein volles Verständnis für andere Kulturen erwerben – weil das Gehirn durch diesen Flaschenhals der Kulturalisierung gegangen ist.“ Solche Einflüsse auf das Gehirn sind natürlich im Kindesalter am größten. Aber auch noch im Erwachsenenalter wird das Denken ständig von der Interaktion mit anderen denkfähigen Wesen geprägt. „Niemand geht aus einem Gespräch in derselben Verfassung heraus, in der er hineingegangen ist“, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer und bringt dieses Phänomen auf die griffige Formel: „You never use the same brain twice“ – man benutzt niemals dasselbe Gehirn.

So ist das Wechselspiel von Geist und Körper, Kultur und Biologie unendlich reziprok: Der geistige Inhalt unseres Denkens kann, zu Philosophien gereift oder in Politik übersetzt, die Welt derart verändern, dass dies wieder auf die Arbeitsweise des Gehirns zurückwirkt – und damit neue, möglicherweise andere Gedanken hervorrufen.

Wenn man also schon meint, die Ursache für unsere Handlungen im Gehirn suchen zu müssen, dann sollte man nicht nur die Biologie der grau-weißen Nervenzellmasse berücksichtigen, sondern alle Faktoren einbeziehen, die dessen Funktionsweise mitbestimmen: Geschichte und Kultur, die Einflüsse in Kindheit und Erwachsenenalter, die Menschen, mit denen wir uns umgeben, die Medien, die wir zu Rate ziehen und die Gedanken, die wir (und andere) uns machen… Am Ende wird man feststellen: Wer  entscheidet, ist nicht etwa alleine das Gehirn, sondern eine sehr viel größere Entität, die aus der Integration der vielfältigsten Einflüsse entsteht und die wir für gewöhnlich „Ich“
nennen.

 

Deshalb ist, nebenbei bemerkt, auch die so vehement geführte Debatte um den freien Willen reichlich absurd. Natürlich haben die Neurobiologen recht, wenn sie betonen, wie sehr unser Denken durch die Biologie des Denkorgans vorstrukturiert und beeinflusst wird und dass wir nie „absolut frei“ denken können. Doch diese absolute Freiheit ist ohnehin eine Chimäre, ein theoretisches Konstrukt, dem wir in der Praxis nie begegnen. Denn selbstverständlich werden unsere Entscheidungen in jeder Situation durch unsere jeweiligen kulturellen Prägungen und alle möglichen Erwägungen begrenzt und eingeengt: Selbst wenn wir Lust dazu hätten, sagen wir unserem Chef meist nicht die Meinung, wir passen uns dem Modediktat an, weil uns unser gesellschaftlicher Status wichtig ist, wir verzichten auf eine Vielzahl riskanter Aktivitäten, weil wir um die Zerbrechlichkeit des Körpers wissen und so weiter und so fort. Die Freiheit des Menschen spielt sich naturgemäß immer in Grenzen ab – und wenn es nur die Grenzen der eigenen Haut sind.

Ein „unbedingt freier Wille“, der „von allen ursächlichen Zusammenhängen“ losgelöst ist, so drückt es der Philosoph Peter Bieri aus, „wäre ein aberwitziger, abstruser Wille. Seine Losgelöstheit nämlich würde bedeuten, dass er unabhängig wäre von Ihrem Körper, Ihrem Charakter, Ihren Gedanken und Empfindungen, Ihren Phantasien und Erinnerungen. Es wäre, mit anderen Worten, ein Wille ohne Zusammenhang mit all dem, was Sie zu einer bestimmten Person macht.“ Deshalb stellt Bieri (besser bekannt unter seinem  Schriftsteller-Pseudonym Pascal Mercier) in seinem Buch Das Handwerk der Freiheit klar: der so genannte freie Wille ist letztlich immer der „verstandene Wille“, also jener, der zu unserem Selbstbild und in das Profil unserer Wünsche passt. Dass diese (Selbst-)Beschränkung sich auch in den Grenzen unseres Gehirns abspielt, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch wir sind diesen Beschränkungen, anders als Automaten, nicht hilflos ausgeliefert. Wir können sie uns immerhin bewusst machen, meint Bieri, und somit in den Prozess der Willensbildung einbeziehen. Der freie Wille wäre also gerade jener, der um seine Beschränkung weiß.

So erweist sich also die Furcht, die Hirnforschung könne bald unsere intimsten Regungen und unsere geheimsten Gedanken entschlüsseln, als ebenso überzogen wie die Hoffnung auf den baldigen Einsatz solcher Gedankenlese-Techniken. Zwar sind die modernen, bildgebenden Verfahren ein unschätzbares Werkzeug für die Forschung und die Behandlung von Patienten. Doch die farbenfrohen Aufnahmen aus dem Hirn gaukeln oft eine Eindeutigkeit vor, die keineswegs der Realität entspricht. So werden zum Beispiel bei der Kernspintomografie die gesuchten Reize mithilfe der Statistik mühsam aus der unaufhörlichen Gesamtaktivität des Gehirns herausgefiltert und in blaue, gelbe und rote Falschfarben umgesetzt. Zudem werden dabei nicht neuronale Prozesse an sich gemessen, sondern nur der Blutfluss im Gehirn. Und Aktionismus im Gehirn ist - ähnlich wie in der Politik – nicht immer gleichzusetzen mit effektiver Denkarbeit. Vielleicht läuft das wichtigste Geschehen auch in einer unbedeutenden Zone am Rand ab, die im Kernspintomografen gar nicht auffällt? Oder es finden mehrere Denkprozesse gleichzeitig statt, die sich wechselseitig beeinflussen und überlagern?

Das Kernspingemälde ist eine idealisierte Konstruktion, die nur entfernt die tatsächliche Geschehen im Gehirn wiederspiegelt. Es gleicht ein wenig dem Versuch, die Arbeit einer Behörde anhand des Bewegungsmusters der dort arbeitenden Beamten abzuleiten. Welche Abteilung ist besonders aktiv, wo finden die meisten Besprechungen statt, in welches Zimmer werden am häufigsten Arbeitsmappen getragen? Natürlich kann man daraus gewisse Rückschlüsse ziehen; doch was dabei besprochen wird und wozu der Arbeitseifer der Beamten am Ende schließlich dient, erhellt das Bewegungsmuster nicht.

Dementsprechend mühsam ist die seriöse Interpretation der Kernspin-Daten. „Es gelingt uns bisher noch nicht einmal, die Grundlagen von Emotionen im Gehirn sicher voneinander zu unterscheiden“, sagt zum Beispiel der Neurobiologe Henning Scheich von der Universität Magdeburg. „Messen wir beispielsweise eine erhöhte Aktivität in der Amygdala, können wir daran nicht ablesen, ob die Versuchsperson weint oder lacht.“ Obwohl Scheich in seinem Labor einen der leistungsfähigsten Kernspintomografen Europas stehen hat, glaubt er nicht, dass man damit in naher Zukunft „Gedanken lesen“ oder andere Wunder vollbringen könne.

Vorsicht ist auch geboten, wenn aufgrund von bildgebenden Verfahren wieder einmal die Entdeckung eines neuen Zentrums für moralisches Verhalten oder Treulosigkeit bekannt gegeben wird. In der Regel sind an solch komplexen menschlichen Charakterzügen immer mehrere Zentren und Hirnbereiche beteiligt. Das Gehirn ist eben kein Baukastensystem, in dem es für jede menschliche Eigenschaft eine eigene Schublade gibt (wie noch die „Phrenologen“ vor 200 Jahren glaubten).

Heute weiß man, dass das Geschehen im Kopf sehr viel dynamischer und komplexer ist, als frühere Generationen sich je haben träumen lassen.

„Es gibt zum Beispiel fünfzig visuelle Zentren, die alle auf eine Art unabhängig und autonom voneinander arbeiten“, gibt der New Yorker Neurologe und Sachbuchautor Oliver Sacks zu bedenken. „Alle von ihnen sind mit unterschiedlichen Aspekten der visuellen Welt beschäftigt, mit Farbe, Bewegung, Eindrücken von Raum, Winkeln, Formen, Kontrast und so weiter. Es gibt eine ständige Konversation zwischen diesen fünfzig Zentren - und erst diese Unterhaltungen führen am Ende zur visuellen Erkenntnis.“ Und um die gesamte Aktivität des Gehirns zu erfassen, müsse man sich Tausende solcher Zentren vorstellen und Tausende von Stimmen.

Auch der Neurobiologe Antonio Damasio, der selbst einige wichtige Verarbeitungszentren entdeckt hat, betont, dass diese nie unabhängig betrachtet werden dürfen. „Die einzelnen Regionen in Ihrem Gehirn sind ziemlich dumm“, erklärte mir Damasio einmal in Iowa (wo er lange Jahre die Neurologie des dortigen Klinkums geleitet hat). „Keine Komponente weiß alles. Aber jede weiß, wie sie auf einen bestimmten Stimulus reagieren muss. Das ist wie ein Stromkreis.“ Erst die Zusammenarbeit unzähliger Regelkreise bringe am Ende das hervor, was wir „Denken“ nennen. Ein einzelnes Areal kann dabei auch verschiedenen Aufgaben dienen, es kann wachsen oder schrumpfen und beim Ausfall eines Zentrums kann ein anderes dessen Arbeit mit übernehmen.

Neurobiologen beschreiben das Gehirn heute gerne als ein „Orchester ohne Dirigent“; man kann präzisieren: Das Gehirn gleicht einem riesigen Orchester, in dem die Musiker – je nach Partitur – ihre Plätze und Instrumente wechseln, in dem niemand die Oberaufsicht führt und in dem doch ein fein koordiniertes Zusammenspiel stattfindet, das permanent die Musik unserer inneren Realität hervorbringt. Und noch etwas kann man anhand
dieses Bildes klar machen: Kein „Hirnorchester“ gleicht dem anderen. Während im einen vorwiegend Streicher und Flöten zum Einsatz kommen, dominieren im anderen vielleicht Bässe und Blechbläser. Denn in jedem Gehirn spiegeln sich die individuellen Anlagen, die Geschichte und die Umwelt seines Besitzers wieder. Daher können auch von Mensch zu Mensch die verschiedenen Hirnbereiche in ihrer Größe um bis zu einem Zentimeter variieren. Daher ist es auch so schwer, die vielen einzelnen Hirnbildstudien miteinander zu vergleichen und auf einen Nenner zu bringen oder von der Untersuchung eines Probanden gleich auf die Allgemeinheit zu schließen. Und daher ist es erst recht ein Unding, mit einer einzigen Untersuchungsmethode den ganzen inneren Reichtum der Gedanken und Emotionen eines Menschen abbilden zu wollen.

 

Diese Schwierigkeiten werden uns im nächsten Kapitel wieder begegnen, wenn es um jene neurotheologischen Studien geht, die sich die religiöse Praxis vorgenommen haben, die also versuchen, die Wirkungen der Meditation, des Betens oder Psalm-Singens neurobiologisch zu entschlüsseln. Auch dabei zeigen die Hirnbilder mitunter dramatische Veränderungen und manche Forscher glauben schon, auf ihre Ergebnisse eine allgemeine
Religionstheorie gründen zu können.

 

(S.221-230)


(jeweils unter Auslassung der Fußnoten)

aus "Die Vermessung des Glaubens"

Karl Blessing Verlag, München (2008)

ISBN-13: 978-3-89667-364-0


Ulrich Schnabel ist Sachbuchautor, Physiker und Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung "DIE ZEIT"